Sechs Thesen zur Entwicklung von Bildungsstandards in Deutschland
1. Das wichtigste Ergebnis unserer Bildungsdebatten "nach PISA" ist der bildungspolitisch außerordentlich folgenreiche Paradigmenwechsel von der sog. Input- zur sog. Output-Orientierung unseres Bildungswesens. Zentrale handlungsleitende Begriffe im Kontext dieser Neuausrichtung sind Leistungsmessung, interne und externe Evaluation, Qualitätsentwicklung und -sicherung, Kerncurricula, Kompetenzentwicklung, Bildungsstandards.
2. Eine Woge von Leistungsüberprüfungen in allen Schulformen und auf allen Schulstufen - von der Erhebung der "Lernausgangslage" beim Schuleintritt bis zum Zentralabitur - ist der sichtbarste Ausdruck dieser Fixierung auf die Zwischen- und Endergebnisse schulischer Arbeit. Die Lehrmittelindustrie vermutet hier bereits ein lukratives neues Marktsegment. Sie vertreibt zum Beispiel unter Verweis auf "die neuen Bildungsstandards für die Primarstufe und die Sekundarstufe I ... sofort einsetzbare Aufgaben mit Lösungen und Erläuterungen für Mathematik, Deutsch, Englisch und Französisch auf CD-ROM" und verspricht den Käufern: "Sie sparen damit Zeit, erleichtern sich die Arbeit und bereiten ihre Schüler sicher auf die zentralen Vergleichsarbeiten vor!"
3. Basis dieser Leistungsüberprüfungen sind sog. Bildungsstandards. Deren Entwicklung unter Zeitdruck - und noch bevor das für diese Aufgabe vorgesehene Institut an der Berliner Humboldt-Universität auch nur gegründet war - war und ist weiterhin eine Hauptaktivität der Schuladministration in den Ländern und auf KMK-Ebene. Es handelt sich bei diesen Bildungsstandards, anders als ihr Name vorgibt, um fachspezifische Leistungsstandards. Sie sind als Regelstandards und nicht - wie von den Experten einmütig gefordert - als Mindeststandards angelegt, weil deren Erarbeitung, so die KMK-Erklärung, zu zeitaufwändig gewesen wäre.
4. Diese Entwicklung ist für die Schulen in freier Trägerschaft - und, notabene, auch für die allseits geforderten selbstständigen Schulen in staatlicher Trägerschaft - hochproblematisch. Die vorliegenden Bildungsstandards erweisen sich nämlich in der Regel als die - zu Kompetenzen umformulierten - Lernziele der vorliegenden Lehrpläne und führen deshalb über die diversen Leistungsüberprüfungen zu einer kleinschrittigen Anpassung an diese staatlichen Vorgaben (Stichwort "teaching to the test"). Diese Einengung erschwert, ja verhindert am Ende alternative inhaltliche und methodische Ausrichtungen und Vorgehensweisen. Damit aber werden auch die von den Schulen in freier Trägerschaft unter ihren je eigenen Wertehorizonten und Bildungsvorstellungen angestrebten "gleichwertigen, aber nicht gleichartigen" Lernwege zu staatlich anerkannten Schulabschlüssen zunehmend verbaut. Und damit wiederum werden künftig die von ihnen bisher erbrachten spezifischen Beiträge zur Förderung von Qualität, Vielfalt und Freiheit unseres Bildungswesens weithin un-möglich gemacht.
5. In dieser Situation müssen die Schulen in freier Trägerschaft - und mit ihnen alle reformorientierten Schulen in Deutschland - öffentlich und mit allem Nachdruck drei Hauptforderungen erheben:
· Nationale Bildungsstandards - richtiger: Leistungsstandards - sollen nicht als Regelstandards angelegt sein (mit ihren absehbaren Ergebnissen nach der Gaußschen Normalverteilung), sondern als Mindeststandards mit ihren eindeutigen pass-fail-Aussagen darüber, ob es der jeweiligen Schule gelungen ist, ihren Schüle-rinnen und Schülern die erwarteten (Mindest-)Kompetenzen zu ver-mitteln.
· Nationale Bildungsstandards - richtiger: Leistungsstandards - sollen für alle Schulabschlüsse und ggf. auch noch für systembedingte Übergangsstellen (z.B. von der Grundschule zur Sekundarstufe I) festgelegt werden.
· Nationale Bildungsstandards - richtiger: Leistungsstandards - sollen nicht als Instrumente zur Selektion genutzt werden, weder für Schülerinnen und Schüler (Stichworte "Zurückstellung", "Sitzenbleiben", "Schulformwechsel") noch für Schulen (Stichwort "veröffentlichte Ranking-Listen"). Sie sollen vielmehr die Erhebung von Ausgangsdaten zur Diagnose und Förderung von Personen und Institutionen ermöglichen (Stichwort "Qualitätsentwicklung von Schule und Unterricht"). Unter dieser Prämisse können auch zusätzliche Leistungsüberprüfungen - z.B. zentrale Vergleichsarbeiten - sinnvoll und hilfreich sein.
6. Über diese bildungspolitischen Forderungen hinaus sollten die Schulen in freier Trägerschaft ihre eigenen Standards entwickeln, in denen ihr spezifisches Bildungsverständnis und ihre entsprechend ausgerichtete pädagogische Praxis zum Ausdruck kommen. Diese Standards sollten sie offensiv nach außen vertreten und sich damit öffentlich gegen den pädagogisch kontraproduktiven Trend stellen, die Qualität von Schulen allein an den Ergebnissen fachspezifischer Leistungsüberprüfungen zu messen. Einen exemplarischen ersten Diskussionsentwurf für solche Standards auf den drei Ebenen des pädagogischen Handelns, der schulischen und der systemischen Rahmenbedingungen hat eine Redaktionsgruppe eines Verbundes von über 30 re-formpädagogisch engagierten Schulen in staatlicher und freier Trägerschaft (Arbeitskreis "Blick über den Zaun") Ende Januar 2005 erarbeitet.
Wolfgang Harder
Stuttgart, 21.2.05