Einladung zu einer Diskussion über eine Schulverfassung im 21. Jahrhundert

 Aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags des deutschen Grundgesetzes hat das Institut für Bildungsforschung und Bildungsrecht (ifBB) im Mai 1999 ein Fachsymposium veranstaltet. Bildungsrechtler und Politikwissenschaftler untersuchten, inwieweit die Schulverfassung heute ihren Beitrag zu einem demokratischen, pluralistischen und aktuellen Aufgaben gerecht werdenden Bildungssystem leistet. Sie kamen letztlich zu dem Ergebnis, dass - beginnend mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht und endend mit Artikel 7 des Grundgesetzes - noch immer Etatismus und Staatsvorrangdenken in der Schulverfassung verankert sind. Freiheit und Verantwortung im Bildungswesen aber ein neues Verständnis von Schulverfassung dringend erfordern.

 1. Von 1794 bis zur Gegenwart: Der Staat - Dominator des Schulwesens

Prof. em. Dr. Siegfried Jenkner, Hannover, zeigte auf, dass die Schulverfassung heute noch immer mit der Überwindung vorliberaler und vordemokratischer Strömungen beschäftigt ist. Konnten sich die Freiheitsideen des Frühliberalismus im Ausland durchsetzen, so wurde in Deutschland Schule weiterhin als allumfassender staatlicher Anspruch verstanden und die begrenzte Unterrichts- und Privatschulfreiheit in ihrer Weiterentwicklung behindert. In den schulpolitischen und schulrechtlichen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es weniger um eine Ausdehnung der Freiheitsrechte im Bildungswesen als vielmehr um eine Abwehr des umfassenden Staatsanspruchs.

Auch die Weimarer Verfassung mit ihrem freiheitlichen Anspruch veränderte das Schulverfassungsrecht nicht grundlegend, sondern schrieb die Dominanz des Staates fort. Das Grundgesetz brach mit dieser „Tradition“ nicht völlig. Nichts erweist sich in der Geschichte der deutschen Schulverfassung als so beständig wie der Staatsvorrang.

 2. Artikel 7 GG: Das Unterste nach oben kehren

Prof. Dr. Lutz R. Reuter, Hamburg, bemängelte, dass das Grundgesetz (GG) keine explizite Garantie für ein Grundrecht auf Bildung enthält, wenn auch verfassungsrechtliche Literatur und Rechtsprechung das Bestehen eines Grundrechts auf Bildung bejahen. Dabei wird das Recht auf Bildung als Recht auf einen unbehinderten und unbeschränkten Zugang zu einem staatlich gestalteten Schulwesen angesehen. Noch immer kennen die Länderverfassungen und das Schulrecht keine prinzipielle Pluralität in der Schulverfassung, die freie Trägerschaft ist Ausnahme und Beigabe.  Pluralität wird negativ definiert als Verbot von Intoleranz und Indoktrination, nicht hingegen positiv als Garant von demokratischer Wahlmöglichkeit, von Vielfalt, Wettbewerb und Anreiz.

Reuter forderte aus diesem Grund, den Artikel 7 GG vom Kopf auf die Füße zu stellen, d. h. von der Allzuständigkeit des Staates auf die Basis einer trägerschaftlichen Pluralität unter staatlicher Rechtsaufsicht, die berät, evaluiert und Rechtskontrolle ausübt. Nicht der Absatz 1 des Artikels 7 GG mit seiner Festschreibung der staatlichen Dominanz habe Basis für das gesamte Schulwesen zu sein, sondern der Absatz 4, der zur Zeit Schulvielfalt wohl zulässt, sie aber zum Prinzip erheben müsste.

 3.         50 Jahre Grundrecht auf freie Schule - 50 Jahre Kampf

Prof. Dr. Johann Peter Vogel, Berlin, würdigte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die die Funktion der Schulen in freier Trägerschaft für das gesamte Schulwesen darlegt und die Errichtungsgarantie als Ausfluss anderer Grundrechte wie des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, des Rechts auf freie Berufswahl, der Glaubensfreiheit und des Elternrechts verdeutlicht. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterstreicht die Errichtungsgarantie als Abwehr eines staatlichen Schulmonopols und als Willen des Verfassungsgebers, den individuellen Grundrechten durch eine adäquate Vielfalt im Schulwesen eine Realisierungsbasis zu geben.

Aber Vogel stellte auch die Tendenzen und Befürchtungen dar, die den progressiven schulverfassungsrechtlichen Gedanken entgegenstehen, deren besonders augenfälliges Beispiel das in letzter Zeit von der Rechtsprechung entwickelte, der Realität völlig zuwiderlaufende „herkömmliche Bild der Privatschule“ ist.

Er widerlegte mit Argumenten aus der Praxis immer wieder geäußerte Bedenken wie Unübersichtlichkeit, mangelnde Leistungsgerechtigkeit und Chancenminderung bei bildungsferneren Schichten: Schüler genehmigter Ersatzschulen müssen die viel schwierigere Fremdenprüfung bestehen; Schulen in freier Trägerschaft widmen sich besonders schwierigen Personenkreisen (wie Behinderten, Aussiedlern, Ausländern, einseitig Begabten); Sonderschulen werden in erheblicher Zahl in freier Trägerschaft geführt; die internationalen Schulen ersparen dem Staat die teure Bildung von vorübergehend in Deutschland lebenden Ausländerkindern, die berufsbildenden freien Schulen nehmen dem Staat Mühen und Kosten ab, Ausbildungen für neu entstehende Berufe zu entwickeln.

Vogel räumte mit der Furcht vor einer Auslieferung von Schule an den Markt auf: Das Grundgesetz macht - zu Recht - Schulaufsicht zur Staatspflicht. Die Schulaufsicht muss es und wird es, wenn auch in gewandelter Funktion, immer geben; sie hat die Aufgabe und auch die Mittel, Missbrauch zu unterbinden.

 4. Autonomie braucht Sachkriterien

Prof. Dr. Martin Stock, Bielefeld, mahnte praktische Konsequenzen aus der Autonomiedebatte auch für die staatlichen Schulen an. Das Konzept einer verstärkten inhaltlichen und organisatorischen Selbstständigkeit der einzelnen Schule im Rahmen einer reformierten Schulaufsicht, das die Bildungskommission des deutschen Bildungsrates schon 1973/74 entwickelt hat, konnte nicht umgesetzt werden. Die nunmehr wieder aufgelebte Diskussion um Schulautonomie kann Erfolge bringen, wenn die Sachkriterien definiert werden, die die Schule zur Autonomie und die Schulaufsicht zu einer sachgerechten Aufsicht befähigen sollen. Grundlage dafür können Artikel 7 Abs. 1 GG (staatliche Verantwortung für das Schulwesen) und Artikel 2 Abs. 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung und der Sittengesetze) sein.

Stock forderte die innere Vielfalt auch auf inhaltlicher Ebene. Tragende Säule einer Schulautonomie muss danach die pädagogische Freiheit sein, die als Freiheit im Rahmen des Bildungsauftrags auf der Basis von Artikel 2 Abs. 1 GG zu verstehen ist und so auch den Begriff Ersatzschule als Schule, die an einem staatlichen Curriculum orientiert ist, fragwürdig macht.

5. Schulvielfalt ist Wesensmerkmal der Demokratie

Prof.  Dr. Frank-Rüdiger Joch, Hamburg/Hannover, arbeitete Schulvielfalt als einen essenziellen Bestandteil einer demokratischen Bürgergesellschaft heraus. Der Staat selbst hat sich in einer demokratischen Gesellschaft im Rahmen von Toleranz und Menschenrechten einer Behinderung oder Bevorzugung verschiedener Wertorientierungen zu enthalten, aber allen Orientierungen die Entfaltung zu ermöglichen, So ist Pluralismus im Schulwesen Verfassungsgebot eines demokratischen Staatswesens. Vor dem Hintergrund der Schulvielfalt als Demokratieelement ist die Eigenverantwortung der staatlichen und freien Schule und der an ihr Beteiligten zu starken; die Rahmenbedingungen bildungspolitisch, rechtlich wie finanziell - für Schulen in freier Trägerschaft sind zu verbessern. Schul- und Unterrichtskonzeptionen dürfen dabei jedoch weder der Beliebigkeit noch den Marktkräften überlassen werden. Eine veränderte, nicht als umfassende staatliche Hoheitsgewalt verstandene Schulaufsicht hat darüber zu wachen.

Das Berechtigungswesen hat abweichende pädagogische und curriculare Konzeptionen angemessen zu berücksichtigen; gerade auf diesem Gebiet ist die Staatsschul-Akzessorietät abzubauen.

Eine ausführliche Dokumentation des Symposiums ist unter dem Titel Frank-Rüdiger Jach/Siegfried Jenkner (Hrsg.): "50 Jahre Grundgesetz und Schulverfassung" im Verlag Duncker & Humblot, Berlin (Abhandlungen zur Bildungsforschung und zum Bildungsrecht, Bd. 4) erschienen.